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zu Politik und Recht

Eugen David

Europapolitik: Orientierungslosigkeit als Regierungsprogramm

Der periodische Bericht des Rates der Regierungen der EU-Länder über die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz ist eine Fundgrube. Regelmässig erfährt man Dinge über die in der Schweiz weder Bundesstellen, noch Medien informieren.

Der neueste Bericht vom 19. Februar 2019 enthält zahlreiche interessante Informationen.

Enge Zusammenarbeit mit der EU in den Jahren 2017/18

Die Schweiz pflegte in den vergangenen zwei Jahren eine enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Union. Erwähnt werden:

  • Bekämpfung des Klimawandels
  • Umweltschutz
  • Förderung der Menschenrechte
  • Rechtsstaatlichkeit
  • Internationale Strafjustiz
  • Einhaltung des humanitären Völkerrechts
  • Demokratie
  • Nachhaltige Entwicklung
  • Wahrung des multilateralen Handelssystems

Besonders unterstrichen werden die enge Zusammenarbeit und eine neue Vereinbarung EU/CH vom 28.04.2017 in den Bereichen

  • Entwicklungszusammenarbeit
  • Humanitäre Hilfe
  • Katastrophenschutz

Am 23. November 2017 hat der Bundesrat ein Abkommen über die Verknüpfung der Schweiz mit dem EU-System für den Handel mit Treibhausgasemissionen unterzeichnet, womit sich die Schweiz dem EU-CO2-Markt anschliesst.

Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Weiter erwähnt der Rat der Regierungen der EU-Länder die Zusammenarbeit

  • in Angelegenheiten der Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU und die Beteiligung der Schweiz an den Missionen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, beispielsweise in der Ukraine und der Sahelzone.
  • im Bereich der internationalen Migration (Steuerung von Migrationsströmen, Umsiedlung von Flüchtlingen, Entwicklung der Governance), insbesondere die Beteiligung der Schweiz an den Massnahmen entlang der östlichen, der zentralen und der westlichen Mittelmeerroute und an der Umsetzung der EU-Migrationsagenda.

Zum bestehenden Schengen-Abkommen hat der Bundesrat am 8. November 2018 mit der EU eine neue Vereinbarung über die Beteiligung der Schweiz an der Europäischen Agentur für Betriebsmanagement von IT-Grosssystemen (EU-LISA) abgeschlossen.

Ausserdem traf er neue Vereinbarungen über eine verstärkte polizeiliche Zusammenarbeit und über die finanzielle Beteiligung an EURODAC, dem EU-Fingerabdruck-Identifizierungssystem. Weiter vereinbarte er eine finanzielle Unterstützung des EU-Fonds für die innere Sicherheit für Außengrenzen und Visa.

Beeindruckender Katalog, nicht kommuniziert

Der Katalog ist beeindruckend, geht er doch deutlich über den Gegenstand der Bilateralen Verträge hinaus. Man fragt sich, weshalb die Schweiz nicht Mitglied der EU ist.

Allerdings erfährt man ausser den Stichworten keine Details über die konkreten Felder der engen Zusammenarbeit und die dabei involvierten staatlichen Stellen.

In der Schweiz erfährt man noch weniger. Die Direktion für europäische Angelegenheiten (DEA), bis 2012 als Integrationsbüro geführt, hat ihre magere Papier-Publikation zu Europa Ende 2018 eingestellt.

Die verbliebene Website präsentiert sich formell. Die Zusammenarbeit bleibt unerwähnt. Die Berichte der EU zu den Beziehungen zur Schweiz finden keine Beachtung.

Ist daraus zu schliessen, dass die enge Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU gar nicht existiert? Oder hat der Bundesrat kein Interesse, die Öffentlichkeit darüber auf dem Laufenden zu halten?

Worthülsen

Von höchster Stelle angeordnet ist jedenfalls eine defensive Kommunikationsstrategie. Die Worte „Integration“ und „Integrationsbüro“ sind seit 2012 aus dem amtlichen Schweizer Wortschatz gestrichen. Von enger Zusammenarbeit möchte schon gar keiner sprechen. Vor allem nicht im Bereich der Sicherheits- und Migrationspolitik oder in der Entwicklungszusammenarbeit.

Was die Schweiz heute macht, heisst „europäischen Angelegenheiten“ verwalten. „Massgeschneidert“ eine „konzertierte und zielgerichtete Interessenpolitik gegenüber der EU“ betreiben. Was diese Worthülsen bedeuten, bleibt offen.

Die offizielle Kommunikation zu Europa ist demotivierend negativ. Jede positive Stimmung wird vermieden. Das könnte die Rechtsnationalen, die auf den Reset in der bundesrätlichen Europapolitik warten, verschrecken. Unter dem Gebilde „europäische Angelegenheiten“ vermutet denn auch niemand eine sinnvolle Zusammenarbeit mit der EU.

Realitäten

Warum will der Bundesrat nicht einfach sachlich über die Realitäten informieren?

  1. Die Schweiz möchte laut Bundesrat weiterhin am europäischen Binnenmarkt teilnehmen. Sie möchte ihre Teilnahme sogar ausbauen, z.B. Finanzdienstleistungen, Energie, Medizintechnik, Forschung etc.
  2. Konsequenz der Teilnahme am Binnenmarkt ist, dass die Schweiz – wie alle andern 31 beteiligten Länder – die Binnenmarktregeln überall dort einhalten muss, wo sie teilnimmt.
  3. Weil die Schweiz souverän eine EU-Mitgliedschaft mit geteilter Souveränität ablehnt, ist sie von den gesetzgebenden und rechtsprechenden Organen des europäischen Binnenmarkts ausgeschlossen und hat daher nichts zum Inhalt der europäischen Binnenmarktregeln zu sagen.
  4. Mit dem selbst gewählten Bilateralismus will die Schweiz, demokratisch selbstbestimmt, blosser „Rule taker“ sein und das europäische Recht nicht mitgestalten.
  5. Niemand zwingt die Schweiz, sich am europäischen Binnenmarkt zu beteiligen. Die Schweiz kann jederzeit darauf verzichten und sich vom Binnenmarkt abschotten.

Feindbild oder Zusammenarbeit oder beides

Stattdessen wagt sich das Feindbild EU in der offiziellen Kommunikation immer weiter vor.

Die vor sieben Jahren aus dem Bundeshaus vertriebene „Integration“ hat die Regierung neuerdings durch „rote Linien“ ersetzt. «Wir haben unsere harten Forderungen an die EU», sagt der aktuelle Aussenminister. Damit markiert er gegen innen und aussen Unnachgiebigkeit, sagt die NZZ.

Die EU reagierte im Januar 2019 mit der Weisung an ihre Beamten, jeglichen weiteren Marktzugang für die Schweiz zu sistieren, ausser er sei im überwiegenden EU-Interesse.

Auch eine „massgeschneiderte, konzertierte und zielgerichtete“ Interessenpolitik. Was in der Schweiz einmal mehr ein Gejammer auslöst, z.B. bei den Universitäten und Hochschulen, wo ca. 5000 Zusammenarbeitsprojekte mit der EU pendent sind.

Irgendetwas kann im Bundesrat nicht stimmen: die eine Hirnhälfte praktiziert eine enge Zusammenarbeit mit der EU, die andere befindet sich mit Kriegsrethorik im Schützengraben.

Zwei Chefunterhändler, die Staatssekretäre de Watteville und Balzaretti, hat der Bundesrat in den letzten vier Jahren nach Brüssel geschickt. Jedes Mal mit grossem Tam-tam in Medienkonferenzen.

Im Auftrag des Bundesrates stimmte Balzaretti Anfang Dezember 2018 dem Entwurf des Rahmenabkommens zu. Drei Wochen später wird er vom Bundesrat desavouiert. Dabei hatte der Bundesrat während vier Jahren jedem Verhandlungsschritt zugestimmt.

Orientierungslosigkeit heisst das Regierungsprogramm.

Rätselhaft bleibt, wie der Bundesrat, in seiner neuen Zusammensetzung, mit der Pflege einer Anti-Europa-Stimmung eine Volksabstimmung gewinnen will. Mit dieser Taktik verfehlte schon der verflossene britische Prime Minister Cameron sein Ziel.

Man kann sich nicht innenpolitisch mit den rechtsnationalen Europa-Gegnern verbünden und gleichzeitig aussenpolitisch die Zusammenarbeit mit der EU ausbauen wollen. Das funktioniert weder Grossbritannien, noch in der Schweiz.

22.02.2019

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